Am 9. September 2014 wurde auf dem jüdischen Friedhof in Lingen eine Gedenktafel für die am 5. August 2014 in London im Alter von 92 Jahren verstorbene Lingener Ehrenbürgerin Ruth Foster geb. Heilbronn enthüllt. Der Vorsitzende des Forum Juden-Christen Dr. Heribert Lange hielt dabei folgende im Wortlaut wiedergegebene Ansprache:
Als die gerade 20-jährige Ruth Heilbronn im Dezember 1941 zusammen mit ihren Eltern nach Riga deportiert wurde, war sie alt und erfahren genug, um illusionslos in die Zukunft zu schauen. Denn sie hatte bereits erlebt, wie zerbrechlich Nachbarschaft, Solidarität, Schutz, Hilfe und Gemeinsamkeit in Wirklichkeit waren, geworden waren – in einem Land nämlich, das den Primat der arischen Rasse zur Gesellschafts- und zugleich zur Staatsdoktrin erhoben hatte, in einem Land, in dem der Anspruch auf Achtung und Toleranz, aber auch auf Gleich-berechtigung und Gleichbehandlung zerronnen war; für die Menschen zumindest, die wie die Familie Heilbronn aufgrund ihres Glaubens – und aus keinem anderen Grund sonst !!! – nicht mehr als Menschen, als Deutsche, wohlbemerkt: nicht mehr als Deutsche arischer Abkunft, angesehen und darum des Todes, genauer gesagt: der Ermordung für würdig befunden wurden. Es gehört für mich dazu, auch heute (!), zu erklären und immer weiter zu sagen, dass es mindestens sechs Millionen europäische Juden waren, die der Tod durch die Mordkommandos der Nazis in Todesfabriken wie Auschwitz oder sonst wo, z.B. auch in den Wäldern von Riga, damals dann über kurz oder lang ereilte.
Ruth Heilbronn überlebte die Verfolgung der Mörder – am Ende durch die Befreiung durch die damals so genannten feindlichen Armeen der alliierten Kriegsmächte, in diesem Fall der Roten Armee und mithilfe der Menschen, die ihr sodann wieder aufhalfen und sie instand setzten, in ihre Vaterstadt Lingen zurückzukehren. War es also eine Fügung Gottes, dass sie überlebte? Und was war dann die Shoah, in der doch ihre Eltern und die meisten anderen Glaubensgenossen ihr Leben auf unvorstellbar grausame Weise lassen mussten?
Nicht nur Ruth Foster, wie sie und ihr aus Polen stammender jüdischer Ehemann sich nach ihrer Emigration nach England nannten, waren wohl oder übel, eben so wie die meisten Über-lebenden der Shoah, von diesem Zwiespalt und der nie endenden Frage erfüllt: Wo war da ihr Gott, der gerechte Gott des Volkes Israel? Und wie die meisten von ihnen hat sie dennoch die Anfechtungen und Zweifel, die aus der furchtbaren Theodizeefrage erwachsen waren, tapfer und entschieden bestanden, und ist ihrem Glauben bis zu ihrem Ende auf dieser Erde treu geblieben.
Und mehr noch: Sie war es, die Ausschau hielt, schon vor mehr als 30 Jahren, nach den Menschen, den Menschen in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend in Lingen, den jüdischen Men-schen Lingens, die, sofern sie überlebt hatten, beinahe in alle Welt zerstreut waren, und nach all den Menschen, in denen sie glaubte und hoffte, den Menschen selbst, die Idee des guten Gottes von seinem guten Menschen und seiner Würde wiederfinden oder endlich entdecken zu können, wenn es denn gelingen sollte oder überhaupt gelingen könnte, das entsetzliche Er-leben und die grauenvolle Erfahrung vom Ungeheuer Mensch, von den ungeheuren Deutschen, und den ungeheuren Ghettos, KZs und Ermordungsfabriken später doch einmal noch zu bannen.
Waren es wohl diese starke Idee und der unübersehbare Impuls ihrer eigenen Nachfrage hier bei uns und ihres Wiederkommens, die in unserer Stadt Lingen nachgerade zu einer Erwek-kungsbewegung für die Aufgabe der Erinnerung führten, und waren es nicht Ruth Fosters großmütige und menschenfreundliche Gesten und ihr beherztes und wirkungsvolles Mittun dabei, die uns heute, also den Erben des Nazi-Wahnsinns, und den Erben des äußeren, vor allem aber des noch viel größeren moralischen Trümmerhaufens, zu der Einsicht brachten, dass auch wir mit der Schuld dieser Nation unausweichlich und unentschuldbar verbunden sind?
Und war es nicht die zuerst von ihr ausgestreckte Hand der Versöhnung, die wir dann dankbar, und voller Ergriffenheit, aber auch voller Bewunderung über so viel menschliche Größe ergreifen konnten und ergriffen haben – freilich immer verbunden mit ihrem Vertrauen dar-auf, dass wir bereit seien, die Lektion der Geschichte zu lernen und unserem Bemühen dar–um, dies auch zu leben?
Diese Lektion aber lautet, und muss auch immer weiter so lauten, wie es im Talmud steht: „Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung“ – ein Satz übrigens, den uns der vormalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zugänglich gemacht hat.
Ruth Foster-Heilbronn hat ihn uns gelehrt und sie hat uns vor alle dem und obendrein instand gesetzt zu lernen – diese Botschaft zu lernen, die Botschaft des Talmud. Denn mit ihr und ih-rem physischen Überleben hatte auch ihr Glaube überlebt, den die damals noch so junge, aber schon so reife Anne Frank mit in den Tod und in die Ewigkeit nahm und dessen überwältigende Macht in dem an dieser Stelle so bedeutungsvollen Wort „dennoch“ steckt. Er lautet: „Und dennoch glaube ich an das Gute im Menschen!“
Wir stehen hier heute, um Dank zu sagen, Dank für ein Leben, das auch uns galt – ein Leben voller Großmut, von beispielhafter menschlicher Größe und voll der unerschütterlichen Hoffnung auf die gute Zukunft des Menschengeschlechts.
Ich verneige mich in tiefer Ehrfurcht und in großer Dankbarkeit vor Ruth Foster-Heilbronn und dem Beispiel ihres immer erinnerungswürdigen Lebens.
Möge, so steht es in hebräischen Lettern auf dem ihr gewidmeten Gedenkstein, nämlich aus dem 1. Buch Samuel, Kapitel 25, Vers 29, „möge ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens“.
Erlauben Sie mir bitte, denn es sind ja überwiegend Christen, die hier versammelt sind und es waren Christen, die Niedertracht und Verfolgung immer schon gegen Juden gerichtet haben, erlauben Sie mir also, auch weil wir ja mindestens, aber auch spätestens bei diesem Trauerakt mit einem Zeichen der Buße und unserer Bußfertigkeit „dran“ sind, Ihnen am Schluss unserer Gedenkfeier den nachfolgenden Gebetstext des großen Papstes Johannes XXIII. vorzulesen, den er vor mehr als 50 Jahren in Rom verfasst und gesprochen hat:
„Wir erkennen heute, dass viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so dass wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen.
Wir erkennen, dass ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen.
Vergib uns den Fluch, den wir zu Unrecht an den Namen [der] Juden hefteten. Vergib uns, dass wir Dich in ihrem Fleische zum zweiten Mal ans Kreuz schlugen. Denn wir wussten nicht, was wir taten.“